REALITÄT – darf’s etwas mehr sein?

Realität, als Synonym für Wirklichkeit, bedeutet vielen die logische Bezeichnung für die Gesamtheit alles Wahrhaftigen und Realen. Auch wenn Natur- und Geisteswissenschaftler quer durch alle Disziplinen den Realitätsbegriff seit jeher zurechtdehnen sowie deutlich differenzierter beurteilen und diskutieren – Orientierung an der Realität steht im allgemeinen Sprachgebrauch sowie in den üblichen Denkmustern für Objektivität, Authentizität, Bodenständigkeit und damit das Gegenteil von Illusion und verzerrter Darstellung.

Viele Menschen neigen dazu, anstatt die gegenwärtige Realität zu erkennen, eine sinn- und wertfreie Parallelwelt dort zu vermuten, wo sie selbst keinen oder nur erschwerten Zugang zu einer technisierten Erfahrung finden.
Es benötigt in aller Regel den Abbau von Vorbehalten und den Aufbau persönlicher Erfahrung, Gewöhnung bis hin zu einer gewissen Vertrautheit im Alltagsverhalten und damit Zeit, um seine Wahrnehmung zu ändern. Das heutige Tempo technischer Entwicklungen und in der Folge Änderungen menschlichen Verhaltens lässt jedem von uns allerdings wenig Zeit, sich an Neues zu gewöhnen und für das eigene Verhalten sowie das Dritter zu reflektieren, was „selbstverständlich“ geworden ist.
Entsprechend erscheint als besondere Herausforderung, dass neue technische Möglichkeiten nun auch noch das bisherige Realitätsverständnis und eigentlich klar geglaubte Grenzen verschwimmen lassen.
Marketiers und Vertriebler sind gut beraten, ihre herkömmliche Vorstellung von Realität zu überdenken beziehungsweise auszuweiten, denn abseits aller philosophischen Überlegungen ist medienwissenschaftlich betrachtet das Realität, was wir mit den Mitteln wahrnehmen können, die uns „selbstverständlich“ geworden sind. Vor über 30 Jahren war das Holo-Deck im Sci-Fi-Vorabendprogramm noch reine Fiktion. Heute sind die neu geschaffenen Realitäten schon nicht einmal mehr Vision, sondern erlebbar, idealerweise als unternehmerische Mission.

Augmented Reality (AR)

Die Anfänge von Augmented Realtity (AR bzw. „erweiterte Realität“) lassen sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen. Ivan Sutherland entwickelte eine an einen schrankgroßen Computer angeschlossene Datenbrille. Sie war der erste Versuch, dem Träger zusätzlich zur gerade betrachteten realen Welt in Echtzeit einfache visuelle Text- und Grafik-, heutzutage aber auch Audio- und Video-Informationen sowie interaktiven Content, einzublenden.
Anfang der 90er-Jahre begann Boeing, in einer der ersten kommerziellen Augmented Reality-Anwendungen, Technikern für Wartungsarbeiten wichtige Zusatzinformationen in ihr Sichtfeld einzublenden. Ein weiteres bekanntes, älteres AR-Beispiel ist das Helmvisier von Kampfpiloten. Während der Pilot normal auf die Umgebung blickt, werden ihm nützliche Informationen eingeblendet. Inzwischen ist die Technologie aus dem industriellen, militärischen oder auch medizinischen Kontext längst in der Spiele-Szene oder bei TV-Sportübertragungen angekommen, wo beispielsweise in Echtzeit überlagernde virtuelle Marken Abseitslinien, Torentfernungen, zusammenhängende Spielzüge oder verschiedene Entfernungen der Konkurrenten beim Weitsprung oder Speerwurf visualisieren.
AR ist auch bei Standard-Produkten angekommen, nur das Portemonnaie trennt Otto Normalverbraucher noch vom Ausstattungsextra namens Head-up-Display im neuen Serien-Auto.
Erst das iPhone 3G erfüllte 2009 die härteren Anforderungen an Sensoren und Leistung, um z.B. die erforderliche Positionsbestimmung (Tracking) sowie Kalibrierung zu ermöglichen und damit auch mobiles AR für den Massenmarkt zu öffnen.
Google Glass, eine Brille mit Mikro-display und Kamera, die über Sprach­eingabe bedient werden kann, geht einen Schritt weiter, indem sie Daten von Positionen und der realen Umgebung nebst Objekten ins Internet überträgt, virtuell verfügbare Informationen zurückbekommt und diese in Echtzeit mit der sichtbaren physischen Realität verknüpft und einblendet, z.B. Text-Informationen oder visuelle Anwendungsbeispiele am platzierten Produkt. Dazu stehen bei allen Wearables, wie auch Smartwatches, auch alle üblichen Kommunikationsfunktionalitäten von Smartphones, bis hin zu Videokonferenzen, zur Verfügung.

Physische Welt und digitale Erfahrungen verschwimmen

Erweiterte Realität wird in praktisch allen Bereichen des Alltags zum Einsatz kommen bis hin zu heute noch futuristisch wirkenden Anwendungs-Szenarien: zum Beispiel virtuellen Bedienoberflächen, künstliche Sinneserweiterungen wie der „Röntgenblick“ oder die Darstellung virtueller Pflanzen, Tapeten, Ausblicke, Kunstwerke ebenso wie Preisschilder, Produktinformationen, Schaufenster oder Displays.

Virtual Reality (VR)

Im Gegensatz zur Darstellung zusätzlicher digitaler Informationen zur analogen Welt bei der erweiterten Realität (AR) steht bei der virtuellen Realität (VR) der computergenerierten Simula-tion einer möglichst realistischen Umgebung im Vordergrund, den Benutzer komplett in eine virtuelle Welt eintauchen zu lassen.
Die Autoindustrie integriert z. B. VR-Technologie in ihr Content-Marketing und begeistert Kunden noch vor Markteintritt neuer Modelle mit der virtuellen Simulation von Fahrerlebnissen in Echtzeit oder dem individuellen Mitgestalten des Fahrzeugs via fotorealistischem 3D-Konfigurator.
Ikea war weltweit das erste Unternehmen, das seine Produkte mit VR-Technologie virtuell und interaktiv erlebbar gemacht hat. In speziellen Showrooms, integriert in Verkaufsflächen, können Kunden mittels spielend leicht bedienbaren VR-Brillen in Ikea-Produkt-Szenarien eintauchen, um sich ihr persönliches Wohlfühl-Ambiente selbst zu gestalten.
Vor Kurzem hat Samsung zum Launch seines neuen Spitzen-Smartphones S7 eine Million VR- Brillen verschenkt; das zeigt, wie interessant bereits heute Reifegrad und Verbreitung der neuen Technologien als Marketingplattform sind. Und das ist erst der Anfang.

Immersives Marketing

Immersion, ein neues, verbal eher nur unzureichend erklärbares Buzzword im Marketing sowie der Gaming-Szene, steht für das „Eintauchen in eine andere Welt“. Aus Vermarktungssicht idealerweise in eine möglichst emotionale, bildreiche Produkt- und Marken-Erlebniswelt, in der Kunden optimal involviert, emotional gebunden und Botschaften glaubwürdig visuell oder, noch besser, multisensorisch transportiert werden.
So werden selbst sonst als störend oder irrelevant empfundene Werbebotschaften einfacher platzierbar, fusionieren mit einem intensiven positiven Erlebnis und stärken die Beziehung zwischen Marke und Konsument.

Das realistische Erleben eines Produktes, von Mehrwerten und Services generiert beim Kunden frühzeitig Glaubhaftigkeit und Vertrauen in die Marke und damit Sicherheit für Investitionsentscheidungen. Gerade erklärungsbedürftige, variantenreiche und komplexe Produkte werden massiv von erleb- und mitgestaltbaren Informationsangeboten profitieren, denn diese eliminieren weitestgehend die Hürden kognitiven Informationskonsums, begrenzter Beratungsressourcen sowie räumlicher, zeitlicher oder sprachlicher Restriktionen und Barrieren.
Ziel und Herausforderung von immersivem Marketing ist somit nicht die völlige Ausblendung der Wirklichkeit, sondern vielmehr der perfekte Mix von Technologie, Content, Storytelling und Involvement, das den steuernden Kunden in beliebig gestaltbaren, realistischen, emotionalen und interaktiven virtuellen Erlebniswelten in den Mittelpunkt setzt. Dies schafft eine nie da gewesene Nähe und Vertrautheit. Und verstärkt damit Relevanz, Glaubwürdigkeit sowie Begehrlichkeit von Unternehmen, Marke und Produkt durch individuellen Wissens- und Erfahrungstransfer signifikant.

Fazit

Eine generell für die moderne Vermarktung enorm wichtige Entwicklung ist das Realtime Interaction Management (RTIM). Es stellt das holistische Ziel in den Mittelpunkt, dem Endverbraucher anhand seines Kundenverhaltens – also nach quantitativer und qualitativer Analyse individueller Customer Journeys – genau zur richtigen Zeit am genau richtigen Touchpoint über den genau richtigen Kanal medien-, kunden- und bedarfsgerecht sowie medienbruchfrei den genau richtigen und relevanten interaktiven Inhalt bereitzustellen.
Neben selbstlernenden Systemen werden laut Marktforscher Forrester „Spatial Analytics“, also kontext-, zeit-, raum- und ortsbezogene Realtime-Datenanalysen in Verbindung mit AR- und VR-Technologien diesen Ansatz massiv stützen.
Zusammen ermöglichen diese Entwicklungen eine völlig neue Dimension und Ebene von dialogischer Kommunikation, personalisierter Verkaufsförderung, Conversion-Optimierung, Feedback-Management und von Kunden- Loyalisierung. Sie werden das Marketing laut Forrester in den kommenden fünf Jahren grundlegend verändern.

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