Digitalisierung
Strategien für den Kulturwandel

„d!conomy: join – create – succeed“ lautete das Motto der diesjährigen CeBIT. Das Fazit von Politik und Verwaltung, von Forschung und Lehre, von Wirtschaft und insbesondere dem Konsumenten scheint eindeutig: Deutschland ist auf dem Weg in die digitale Zukunft. Um diesen ganzheitlichen evolutionären Prozess zu meistern, müssen Unternehmen die Weichen stellen. Von Lior Yarom

Daten und Technologien durchdringen nicht mehr nur alle unsere geschäftlichen sowie privaten Lebensbereiche, sondern nehmen Einfluss auf immer breitere Teile der gesamten Bevölkerung. Wir sind nicht mehr nur in jeder Lebensrolle vernetzt: als Internetsurfer, Interessent, Kunde, Patient, Mitarbeiter, Geschäftskontakt oder Freund. Sondern auch in jeder Lebenssituation: bei der Arbeit, bei der Online-Recherche, beim Kommunizieren, beim Konsum physischer und medialer Güter sowie Services, beim Sport und mit den entsprechenden Devices sogar im Schlaf. 

Alle unsere Lebensumfelder sind zunehmend vernetzt, die realen mit den virtuellen. Neben inzwischen langjährigen Selbstverständlichkeiten wie Computer, Tablet, Smartphone, Kredit-, EC- und Kundenkarten, sind nun also auch Fernseher, Auto, Musik- und Filmsammlung sowie unser ganzes Heim inklusive Schließmechanismen, Küchengeräten, Heizung, Jalousien und den Haustieren vernetzt. Unser Unternehmen von der Maschine über die Stechuhr bis zu jedem Arbeitsplatz sowieso.

Sensoren überwachen, kontrollieren und steuern im Web 4.0 alles, machen jedes Objekt zu Sender und Empfänger zugleich. In Zukunft wird alles smart und connected, also intelligent und drahtlos miteinander vernetzt. 

Alles zusammen fokussiert Ubiquität: Zu jeder Zeit, an jedem Ort und mit jedem Device einfach verfügbar, muss möglichst nahtlos, medienbruchfrei und intelligent der Zugriff auf Daten, Informationen, Wissen sowie Abläufe, Prozesse und damit Kommunikation, Interaktion und Transaktion gewährleistet werden. Zwischen Menschen, zwischen Menschen und Maschinen sowie nun auch direkt zwischen Maschinen. Bestenfalls mit dem zusätzlichen Ansatz, gleich Analyse- nebst Interpretations- und lernende Mechanismen zu integrieren, um sich immer weiter, auf Basis digitaler Informationen, zu optimieren.

Perfekte Welten?

Eine scheinbar wunderbare Vision – zumindest für jeden, der in Automatisierung und hocheffizienten Prozessen denkt. Perfektion scheint greifbar nahe. Dies gilt unter dem Stichwort Industrie 4.0 für die industrielle aber auch handwerkliche Produktion nebst Logistik. Jedoch ebenso für Produkt- und Category-Management, für Kommunikation und Marketing, für Produktentwicklung, Verkaufsförderung und Vertrieb, für Helpdesk und Service, für Finanz- und Personalbuchhaltung, die kaufmännische Verwaltung oder Personalentwicklung.

Paul D’Arcy, Marketingleiter von Indeed USA, bringt es auf den Punkt: „Heute ist jedes Unternehmen irgendwie auch eine Tech-Firma“. 

Technologien, Schnittstellen oder Daten, Ressourcen und Prozesse können über die gesamte SupplyChain eingekauft, adaptiert und implementiert werden. Webservices, Online-Dienste und Cloudanwendungen bieten inzwischen hochprofessionelle und vor allem bezahlbare Lösungen. Letztendlich mit dem Ziel der Perfektion, zur Optimierung der Effektivität durch Senkung von Kosten bei gleichzeitiger Gewinnung, Aktivierung und Loyalisierung von Kunden zur Steigerung von Erlösen, Erträgen und Unternehmenswerten. Perfektion schafft Sicherheit. Sicherheit für Qualität und für Leistungsfähigkeit. Ganze Unternehmer- und insbesondere Managergenerationen quer durch alle Branchen und Disziplinen wurden zum Perfektions-
streben erzogen. Grundsätzlich sicher eine ganz wesentliche Stärke deutscher Unternehmenskultur, deren Leistungsfähigkeit im unverändert wertvollen Qualitätssiegel ‚made in Germany’ gipfelt. 

Im aktuellen Marktumfeld kann das Streben nach Perfektion jedoch durchaus den wirtschaftlichen Tod bedeuten. Abseits von Pareto-Prinzip und ‚time-to-market’-Betrachtungen auch deswegen, weil ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Digitalisierung der ‚Faktor Mensch’ ist.

Agilität versus Perfektion

„Wenn Apple damals beschlossen hätte, das iPhone erst dann zu vermarkten, wenn es wirklich perfekt ist, wäre das Unternehmen vermutlich pleite. Wenn die Bremsen bei einem Auto nicht funktionieren, sind die Insassen tot. Wenn medizintechnische Geräte nicht funktionieren, sind die Patienten tot. Und wenn eine Gasheizung explodiert, sterben ebenfalls Menschen. Bringt ein Softwareunternehmen aber eine nicht perfekte Lösung auf den Markt, kommt einfach nach einigen Tagen ein neues Update.“, so Frank Riemensperger, Vorsitzender der Geschäftsführung der Unternehmensberatung Accenture Deutschland und Mitglied im Hauptvorstand des Branchenverbandes Bitkom. Und weiter: „Das haben viele noch nicht begriffen, dass man unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten haben darf und auch muss, um den Anschluss nicht zu verlieren. Den Mut aufzubringen, auch halbperfekte Dinge zu verkaufen, ist die größte Herausforderung, der größte Kulturwandel für deutsche Unternehmen.“

Erfolgsfaktor Mensch

In der Deutschland-Studie, die die Digitalberatung etventure mit Unterstützung der GfK Nürnberg durchführte wurden Vorstände und Führungskräfte aus 2.000 Großunternehmen mit einem Jahresumsatz von mindestens 250 Millionen Euro befragt. Eines der Ergebnisse lautete, dass das mit Abstand größte Hemmnis bei der Umsetzung der digitalen Transformation die Verteidigung bestehender Strukturen im Unternehmen sei. Bestätigung liefert die vom Beratungshaus Kienbaum erstellte Studie zur Digitalen Transformation. Danach sehen 53 Prozent der befragten Unternehmen den Weg in Richtung eines digitalisierten Geschäftsmodelles aufgrund geringer Veränderungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter gefährdet. Kosten oder zu ungenaue Ziele, klassische Gründe für das Scheitern von Change-Projekten, nennen nur etwa ein Drittel der Befragten als Grund für das Scheitern digitaler Transformationen.

„Solche Leute sind gefährlich und können nur im Sinn haben, die Weltherrschaft an sich zu reissen!“, so Matthias Horx, Gründer des Zukunftsinstituts und Trend- und Zukunftsforscher mit unverhohlener Ironie. Nach seiner Ansicht wirken Google, Apple, Facebook, Tesla und Co. nicht nur durch ihre Größe und ihre Technik bedrohlich, sondern insbesondere auch aufgrund ihrer kulturellen Fremdheit: „Lauter Nerds, die sich nicht mehr an geschäftliche Konventionen halten, sondern mit lockerer Miene Revolutionen verkünden, und dabei verwaschene Jeans tragen.“

Point of no return

Die einfache Wahrheit lautet: Digitalisierung ist weder nur ein neues IT-Projekt, noch ein weiterer Marketingkanal oder ein zusätzlicher Vertriebsweg. Digitalisierung ist ein ganzheitlicher evolutionärer Prozess und wird sich nicht zurück entwickeln. Denn sie bietet den Menschen ganz real Annehmlichkeiten, verbessert die Lebensqualität und schützt gleichzeitig Ressourcen. Im Gegenteil, die Geschwindigkeit der Veränderungen und der damit verbundenen Erwartungen von Kunden und allen Partnern in der Wertschöpfungskette wird sich weiter erhöhen. Damit wird die Bedeutung von Agilität zunehmen, also der Fähigkeit mit Veränderung und Anpassung flexibel, aktiv sowie reaktiv, erfolgreich umzugehen. Dies erfordert den Mut, „Unperfektion“ ebenso wie Trial and Error bewusst zuzulassen, um aus der Agilität Wettbewerbsvorteile und Marktvorsprung zu entwickeln; nicht nur einmalig, sondern kontinuierlich.

Neben der Leistungsfähigkeit innerhalb der Organisation, also beispielsweise Qualifikation und ständige individuelle Weiterqualifizierung, rücken damit auch Elemente der Leistungsbereitschaft, also Engagement, Motivation und Loyalität der Mitarbeiter, in den Mittelpunkt.

Ethik und soziale Verantwortung

Denn, auch abseits akribischer Datenschutzbeauftragter oder notorischer Verschwörungstheoretiker: Kein Mensch, kein Unternehmen und keine Organisation möchte, dass andere Menschen, Unternehmen oder Organisationen jederzeit in alles Einblick und auf alles Zugriff haben, geschweige denn überwachend, kontrollierend, steuernd oder gar manipulierend. Neben dem Erklimmen immer höherer technologischer und prozessualer Qualitätsniveaus rücken in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft ethische Betrachtungen immer mehr in den Blickpunkt. Vertrauen, in jeder Lebensrolle, auch als Mitarbeiter, ist hier der vielleicht wichtigste Wert. Entsprechend ist das zentrale Erfolgsmoment jeder Digitalisierungsstrategie, den zwingend notwendigen Kulturwandel und somit den ‚Faktor Mensch’, inklusive aller emotionalen Perspektiven, zu berücksichtigen. Die gesamte Organisation, jeder Mitarbeiter im Unternehmen, muss die Digitalisierung verstehen, sich darin mit seinen Fähigkeiten, konkreten Aufgaben, Zielen sowie Chancen wiederfinden und identifizieren. 

Digitaler Spirit auf allen Ebenen

Agilität erfordert neben Flexibilität, von Unternehmen und Mitarbeitern, eine neue Bewertung von Weitsicht, Risikobereitschaft und den offenen Umgang mit Fehlern sowie deren Analyse. Gerade weil im Prozess der Digitalisierung die erforderlichen Kompetenzen in allen Disziplinen nicht in einer Person gebündelt werden können, ist eine veränderte Form von Kommunikation und Kollaboration, also auch Hierarchiestrukturen zwingend erforderlich. Wer einzelne Digitalisierungsexperten alleine im mittleren Management gegen die alten Strukturen, schlichte Gewohnheit oder bewusste und unbewusste Ängste kämpfen lässt, wird scheitern. Verantwortung für Digitalisierung lässt sich ebenso wenig bequem an eine Stabsstelle delegieren, wie Marktorientierung in die Marketingabteilung. Diese Verantwortlichen brauchen Unterstützung in Form eines crossfunktionalen Digitalisierungs-teams, mit gut vernetzten „alten Hasen“ als Mentoren, mit lösungsorientierten Pragmatikern als überzeugte Umsetzer, mit Powerusern als überzeugte Anwender sowie jungen, begeisterten ‚digital natives‘ als Treiber eines neuen digitalen Spirits. Mit dem klar positionierten Topmanagement im Rücken kann so eine veränderte Unternehmenskultur entwickelt und erfolgreich in die Organisation getragen werden.

Digitalisierung ist der Weg und nicht das Ziel

Digitalisierung erschöpft sich eben nicht nur in der Umsetzung von Schnittstellen, in der Einhaltung von Datenformat-Standards und optimierten Nutzung elektronischen Datenaustauschs zur Effizienzsteigerung alter und neuer Geschäftsprozesse. Die Entwicklung einer erfolgreichen Digitalisierungsstrategie bedeutet nicht die Reduzierung allen unternehmerischen Denkens und Handelns sowie aller Ressourcen und Prozesse auf 0 und 1. 

Verbesserung, Wachstum und Innovation ergibt sich fast nie automatisch aus IT-Strukturen, sondern muss gelebt und mühsam erarbeitet werden. Mit dem Ziel zukünftig jederzeit und überall kundenzentriert und mit möglichst effizienten Produkten, Leistungen und Geschäftsprozessen erfolgreich agieren und reagieren zu können, jeweils abgestimmt auf die dynamischen Marktbedingungen. 

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