Der folgende MÖBELMARKT-Experten-Beitrag wird Ihnen von Rat für Formgebung zur Verfügung gestellt. Form, Stil und Inhalt liegen allein in der Verantwortung der Autorin Ulla Weismüller. Die hier veröffentlichte Meinung kann daher von der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers abweichen.
Rat für Formgebung
Expertenbeitrag: Monobloc. Es kommt darauf an, dass man sitzt
Das meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten: Mit „Monobloc“ ist Hauke Wendler ein großartiger Dokumentarfilm gelungen, der vieles mehr ist als ein Film über Design. Er spürt den umstrittenen Plastikstuhl in aller Welt auf und zeigt Menschen, die ihn produzieren, gebrauchen und entsorgen, ohne unbequemen Fragen auszuweichen und unlösbare Widersprüche zu verkleistern.
Von Thomas Wagner
Schlicht „Monobloc“ heißt der Film von Hauke Wendler. Dabei geht es um das das meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten. Eine Milliarde Exemplare des stapelbaren, in Deutschland oft weißen Plastikstuhls, soll es weltweit geben. In einer Art Prolog fällt der Blick auf Wohnblöcke, wie man sie in vielen Städten findet. Man hört, wie ein Mann nach seinem Hund ruft und erkennt an der Straße das Schild einer Kneipe: „Kleine Freiheit Nummer 3“. Dann schwenkt die Kamera auf ein vorgelagertes Gebäude mit Glasbausteinfassade und eine Stimme aus dem Off erklärt: „Wenn man Filme macht, sucht man ständig nach Geschichten, nach großartigen Bildern und bewegenden Momenten. Wenn man dabei über einen Plastikstuhl stolpert, bricht niemand in Jubelstürme aus. Da denkt keiner: wow! – das hier wird ein Film! Aber in diesem Leben ist wenig so, wie es auf den ersten Blick scheint.“ Man sollte sich den Satz merken.
Und da steht er, der Hauptdarsteller: Plastikblütenweiß vor einer Wand, die wie frisch gestrichen aussieht. Plötzlich weht ein trockener Busch ins Bild – als sei man in einer staubigen Westernstadt. Und zu dem Satz „Dieser Plastikstuhl heißt Monobloc und ist das meistverkaufte Möbelstück der Welt“ sieht man, wie das Bild inszeniert wird, inklusive Regen aus dem Gartenschlauch. „Und an diesem Punkt“, bemerkt die Stimme, „wird es spannend, da müssen nur noch ein paar schöne Bilder her – und schon geht sie los, die unglaubliche Geschichte“. Der Regisseur ruft „Und danke!“, die erste Einstellung ist im Kasten und jeder weiß jetzt, dass auch dokumentieren inszenieren heißt.
Eine Milliarde Plastikstühle – wie konnte es dazu kommen?
Die Suche, die das Filmteam um die halbe Welt führen wird, beginnt an einem kühlen Herbstmorgen im Norden Italiens. Hier haben drei Brüder vor mehr als 50 Jahren eine der ersten Fabriken für Plastikstühle aufgebaut. Einer der Gründer der Stuhlfabrik, Camillo Proserpio, erzählt, der Monobloc habe auf dem Markt eingeschlagen, weil er billig war und es eine enorme Nachfrage gab. „Das war die Zeit, als Plastik boomte.“ Er hätte Glück gehabt im Leben – „und zwei Brüder, die mitgemacht haben“. Die drei Brüder sitzen da und erzählen: „Camillo“, sagt Carlo, „hat die Formen für die Stühle gebaut, Serafino hat sich um die Produktion gekümmert, und ich war im Vertrieb und hab von allem etwas gemacht“. Camillo sei der Anführer gewesen, sie die Laufburschen: „Wir mussten rennen, immer seinen Ideen hinterher.“
Alle 50 bis 55 Sekunden ein Monobloc
In der Fabrik rieselt das Polypropylen-Granulat in die Produktionsanlage. Die Herstellung eines Monobloc dauert 50 bis 55 Sekunden. Das durch Erhitzen verflüssigte Polypropylen wird in die leere Gussform gespritzt. Ist es abgekühlt, öffnet sich die Form und der Stuhl wird herausgezogen. Alles geht wie am Schnürchen. Monobloc bedeutet, dass der Stuhl in einem Stück gefertigt wird. Die erste Firma, die diese Stühle hergestellt habe, sei eine französische gewesen. Zum Glück sei der Stuhl nie zum Patent angemeldet worden. Also haben sie, so Camillo, ein paar Kleinigkeiten geändert, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Erfunden hätten sie ihn nicht, das könnten sie nicht behaupten. 240 bis 250 Millionen Exemplare haben sie verkauft, von dem Stuhl, der den Namen seines Herstellungsprozesses trägt und keinen anderen braucht. Das dürfte einzigartig sein. Zum Schluss sitzt die ganze Familie zum Gruppenbild zusammen, selbstverständlich auf Monoblocs. Die Bodenhaftung hätten sie nicht verloren, das glaubt man ihnen.
Um die Erzählung zu brechen und sich klar zu machen, wo man steht, wird das eigene Tun immer wieder im Film reflektiert. Ein Anfang ist zwar gemacht, die weitere Finanzierung aber unsicher; auch die Recherchen ziehen sich hin. Dabei ist das Internet voll von Bildern, in denen der Monobloc eine Rolle spielt, wenn auch am Rande: „Ein Nebendarsteller auf der Weltbühne, ein Statist aus Plastik“.
Ein hochwertiges Lifestyleprodukt
Wo also weitermachen, wenn man noch nicht einmal weiß, wer den Stuhl erfunden hat? Der Zufall hilft. Ein Monobloc-Enthusiast bietet unveröffentlichte Aufnahmen an, die er vor 15 Jahren von Henry Massonnet (1922 bis 2005) kurz vor dessen Tod gemacht hat. „Er habe ihn erfunden, da gäbe es keinen Zweifel“, sagt Massonnet in dessen Aufnahmen, und führt darin durch sein kleines Museum. Die ersten Monoblocs waren, wie Werbebroschüren belegen, keineswegs Billigprodukte, sondern Lifestyleobjekte auf Basis hochwertigen Materials und neuester Technologie. Massonnet war, als er starb, vergessen. Nun taucht sein Stuhl in einer Ausstellung im Vitra-Schaulager wieder auf. Auf die Nobilitierung im Designmuseum folgt die banale Realität: die Stühle beim Imbiss um die Ecke, die Stühle der Tochter bei der Wochenendhütte, die Stühle der Nachbarin an der Wochenendhütte, die Stühle vor der Kneipe an der Wochenendhütte und vor der Surf-Station am Baggersee gleich hinter der Wochenendhütte.
Hauke Wendler erzählt Geschichte um Geschichte, blättert aber eben nicht nur in einem Kapitel der Industrie- und Designgeschichte, in dem bekannte Ikonen vom Panton- über den Bofinger-Stuhl bis zu Magistrettis „Selene“ gegen das Billigprodukt ins Feld geführt werden. Im improvisierten Studio in einem Lkw mit der Aufschrift „Was halten Sie von Plastikstühlen?“ wird allseits nachgefragt: „Dem Stuhl hängt auf jeden Fall ein ‚Billiggeschmäckle‘ bei. Sobald man sich was Besseres kaufen kann, kauft man sich was anderes“, sagt eine Frau. „Preiswert, praktisch, stapelbar“, meint ein Mann, „kann man machen; aber: sie sind scheußlich!“.
Raus aus Europa
Wer noch immer Sorge hat, das Thema trage nicht über eine Spielfilmlänge von 90 Minuten, wird eines Besseren belehrt. Der Film ist abwechslungsreich und berührt sämtliche Aspekte des Monobloc, von Plastikstühlen im Allgemeinen und vielem anderen mehr. Um voranzukommen, geht es nun raus aus Europa, nach Afrika, nach Uganda. Seit fünf Jahren sind die Beine von Annet Nnabulime gelähmt. Sie kann nicht mehr laufen. Und weil sie nicht laufen kann, kann sie nicht arbeiten und ihre Familie unterstützen. Einen Rollstuhl kann sie sich nicht leisten. Doch da gibt es „diese Organisation, die Rollstühle verteilt!“ Es gehe in Afrika oft darum, mit dem zu leben, was man hat, sagt Francis Mugwanya, der Leiter eines Missionswerks. Er sitzt selbst im Rollstuhl – aufgrund einer Polioerkrankung mit drei Jahren. Die Organisation verteilt Rollstühle an Menschen, die sie sich nicht leisten können. Bei 40 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern leben fünf Millionen Menschen in Uganda mit einer Behinderung. Davon brauchen eine Million einen Rollstuhl. Es gibt verschiedene Modelle von Free Wheelchair Mission. „Gen 1“ war der erste, den die Organisation selbst entwickelt hat – mit einem Sitz aus einen Monobloc. „In Uganda“, sagt Francis, „ist ein Plastikstuhl kein Witz. Plastikstühle sind genau das, was wir brauchen.“ Und er betont, hier würde niemand auf Europa oder Amerika warten: „Wir nutzen das, was uns zur Verfügung steht. Und wir sind glücklich damit.“
Beweglichkeit sorgt für neuen Lebensmut
Beim Versuch herauszufinden, wer den „Gen 1“-Rollstuhl entwickelt hat, landen die Filmemacher in Kalifornien bei Don Schoendorfer. Er erzählt, wie es dazu kam. Vor allem aber, dass mit so einem Rollstuhl Beweglichkeit und Lebensmut wiedergewonnen werden – wie bei dem Mann in Vietnam, den sein Bruder 35 Jahre lang jeden Tag herumgetragen hat, bevor eines Tages jemand kam und ihm half. Um einen möglichst günstigen Rollstuhl zu bauen, so Schoendorfer, mussten die Materialkosten runter. Der Monobloc war überall auf der Welt verfügbar und hat im Ausverkauf nur vier Dollar pro Stück gekostet. Bis 2019 hat die Free Wheelchair Mission insgesamt 1,1 Millionen Rollstühle verteilt. Bis 2025 sollen es 2 Millionen sein.
Nur ein billiges Sitzmöbel aus einen in Verruf gekommenen Material?
Indem der Film all diese Geschichten erzählt, wird aus dem Monobloc mehr als ein billiges Sitzmöbel aus einem in Verruf gekommenen Material. Man sieht, wie Annet wieder zu leben beginnt, weil sie sich nicht mehr über den Boden schleppen muss und ahnt, welche Freiheit ein einfacher Satz wie dieser bedeutet: „Jetzt kann ich überall hin.“ Wendlers großartiger Dokumentarfilm schaut nicht nur auf ein Objekt, er lässt Menschen und Bilder gleichermaßen sprechen. Dazu macht Kameramann Boris Mahlau Bilder, die zeigen, wie es ist. Ohne zu beschönigen, aber auch ohne anzuklagen; ohne in eine Werbeästhetik zu verfallen, die alles und jedes gefühlig aufhübscht; aber auch ohne in eine ebenfalls verlogene Bildsprache des Elends und der Anklage abzurutschen. Sein Blick auf das Geschehen verleugnet die von der Kamera erzeugte Distanz nicht. Doch wer bereit ist, hinzuschauen, wird mitten unter Menschen versetzt, die Dinge anpacken, die ihr Leben leben, die nicht aufgeben. „Monobloc“ ist auch ein Film, der versucht, seine eigenen Vorurteile einzuholen. Wendler ist ein Regisseur, der bereit ist, seine eigene Skepsis gegenüber billigen Plastikstühlen ebenso zu hinterfragen wie die anderer: „Je mehr Menschen wir treffen, deren Leben mit dem Monobloc verflochten ist,“ heißt es nach etwa einer Stunde, „umso weniger verstehe ich meine eigenen Vorbehalte – und die der anderen.“
Ob Sanjeev Jain, Vizepräsident der Möbelsparte von Supreme Industries, einem der größten Plastikproduzenten in Indien (Jahresumsatz 850 Millionen Dollar), der dem Monobloc mit einer Designversion wieder mehr Stabilität und Wertigkeit geben will. Ob Harnek Singh, der in einer Fabrik von Supreme die Aufsicht über 12 Maschinen hat und den Plastikstuhl in Indien für notwendig hält, weil es die komplette Vegetation vernichten würde, 50 bis 60 Prozent der Stühle aus Holz zu produzieren. Ob Maria Ilda de Andrade, die in Brasilien Müll sammelt (vier Kilogramm Stühle bringen vier Reais, 85 Cent; im Monat hat Ilda 200 bis 300 Reais, etwa 40 bis 60 Euro), und Musamara Mendes Pereira, die im Verband Rosa Virginia Materialien dem Recycling zuführt – der Film erzählt noch viele weitere Geschichten. Nie werden die Menschen dabei zu abstrakten Größen in zweifelhaften Statistiken. Wo Zahlen und Daten genannt werden, schützen sie nichts vor. Abgesehen von den spontanen Befragungen, haben alle, mit denen das Team gesprochen hat, einen Namen, ein Gesicht, eine Stimme, eine Wohnung.
Kommt, wenn Design demokratisiert wird, ein Stuhl wie der Monobloc heraus? Ein extrem preiswerter Stuhl aus Kunststoff für alle und jede/n? Ein Stuhl, bei dem kulturelle Unterschiede sich fast nur im Gebrauch zeigen? Ein Stuhl, in dem sich die hellen und die dunklen Seiten einer globalen, auf Effizienz getrimmten Produkt- und Konsumkultur spiegeln? Ein Stuhl, der ökonomische, ökologische, soziale und ästhetische Fragen aufwirft, die nicht einfach zu beantworten sind? Ein Stuhl, der je nach Land und sozialem Status anders akzeptiert wird?
Was Gestaltung vermag und was sie anrichtet
„Monobloc“ ist kein Film über Design, sondern über dessen gesellschaftliche Wirkung. Er zeigt auf, was Gestaltung vermag und was sie anrichtet. In positivem wie negativem Sinn; geplant, aber auch absichtslos. Selbst die Bilder aus den schmutzigen Recycling-Hallen verheißen da nichts Gutes. Wendlers Kommentar: „Für mich war Recycling immer eins dieser guten Wörter, die das Leben besser machen, sauberer und gerechter. Je länger wir zwischen Lärm, Gestank und Plastik splittern stehen und filmen, umso mehr zweifle ich daran, dass die Sache so simpel ist. Aber vielleicht ist das auch meine wichtigste Lehre aus dieser Reise um die halbe Welt: Es gibt sie gar nicht, die per se guten oder schlechten Wörter. Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, das Leben ist eine endlose Abfolge von Graustufen, die wir immer neu bewerten müssen. Und das gilt selbstverständlich auch für Plastikstühle.“
Noch mehr Geschichten und Bilder rund um den Monobloc und den gleichnamigen Film findet man in dem im Februar im Verlag Hatje Cantz Verlag erscheinenden Buch.
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